Michael Post

Illusion aus Farbe und Flächen

Essay zur Ausstellung: Linie – Fläche – Farbe – Raum

Schon der Titel der Ausstellung: Linie – Fläche – Farbe – Raum
bezeichnet auf selten nachdrückliche Art das, was wir hier zu sehen bekommen! Diese vier Begriffe definieren den lückenlosen und fortlaufenden Zusammenhang der künstlerischen Intention und der Arbeitsweise von Heiner Thiel.

Die gezeigte Auswahl von Zeichnungen und halbplastischen Wandstücken aus den letzten 10 Jahren lassen in einer kleinen Rückschau auf ideale Weise die künstlerische Entwicklung ablesen. Die vielschichtigen visuellen Erscheinungsformen der vier Begriffe thematisieren hierbei ausschließlich sich selbst.
Christina Weiß schreibt in ihrem Buch Seh-Texte: „Konkrete Kunst sucht also den letzten Schritt zur Befreiung der Kunst von ihrer fremden Wirklichkeit.“

Über diese von „De Stijl“ und Theo van Doesburg bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorformulierten Grundthese hinaus schreibt sie weiter: „Die Gesetzmäßigkeiten des konkreten Bildes bestehen in der Relation der Bildelemente untereinander: Die Kunstmittel und die Struktur ihrer „Konstellation“, ihrer Organisation, werden thematisiert und reflektiert.
„Die Ideen, Verhältnisse und Gedanken, die sie sichtbar machen, sind die Semantik des Materials und die Semantik des künstlerischen Verfahrens, der Präsentation und der Komposition.“

Was hier im Zusammenhang konkreter Bildfindungen beschrieben wird, trifft auch auf die Arbeiten Heiner Thiels zu.
In diesem Kontext ist es jedoch notwendig, unser Augenmerk auf die spezifische, ja singuläre Ausprägung seiner Kunst zu richten.
Zum besseren Verständnis möchte ich kurz auf den Weg von den abstrakten zu den konkreten Bildfindungen Heiner Thiels eingehen: In frühen Arbeiten Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre entstanden ersten Stahlskulpturen – sie sind halbabstrakt – deren Abbildhaftigkeit auf vorangegangenen Naturstudien basierte.
Seine Wahrnehmung fokussierte sich zunehmend auf die Zusammenfügung von „Bauteilen“ zu einem ganzen Gefüge, wie sie bei Skeletten oder eben Schädelformen ablesbar sind: Ein Schädel ist ein architektonisches oder tektonisches Gebilde, das nach ganz festgelegten Regeln wächst.

„Für mich waren interessant dabei konvexe und konkave Wölbungen, positiv und negativ. Mich hat nicht der Schädel als Alltags- oder Todessymbol interessiert, nichts Mythisches, sondern: Wie ist so was gebaut, und was für Bedingungen hat es zu erfüllen“, schreibt Heiner Thiel damals.
Mit dieser deutlichen Absage an die christliche abendländische Tradition der Vanitasbilder, die dem Schädelabbild als Sinnbild des Vergänglichen schlechthin und als Mahnung der Begrenztheit des Lebens zugeordnet wird, beginnt sich seine künstlerische Vorgehensweise auf die formalen Fragen Linie, Fläche und Raum zu konzentrieren.
Über die kollagenartige Verarbeitung von Blechstücken entstehen Mitte der achtziger Jahre einige langgezogene Bodenskulpturen und erste halbplastische Wandarbeiten, die durch die proportionale Anordnung und Komposition der drei genannten Faktoren das menschliche Sehen in besonderem Maße ansprechen.

Mit der Befreiung von jeglicher Abbildhaftigkeit kann sich die menschliche Wahrnehmung auf das konzentrieren, was „wirklich da ist“.
Heiner Thiel sucht fortan die direkte Auseinandersetzung mit plastischen Konstruktionen, die verschiedene Ebenen facettenartig aufzeigen.
Diese dem Ordnungsprinzip einer jeweiligen Arbeit zugeordnete Ansammlung von Flächen und erhabenen Stegen, geschlossenen und offenen Formen präsentieren sich in ihrer Raumbeanspruchung derart, dass sich beim verweilenden Hinsehen, sich eine Art Wechselspiel zwischen der Wahrnehmung des Ganzen, dann der Details oder umgekehrt einstellt.

Schon im Kubismus gab es das Phänomen, aufeinander folgende, fächerhaft zur Darstellung gebrachte Bewegungsabläufe, sowohl gleichzeitig oder aber auch wechselseitig, nach und nach wahrzunehmen.
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entstehen eine Vielzahl von Graphitzeichnungen, welche im Kontext der Bodenskulpturen entstehen, aber wie alle Zeichnungen Thiels als autonom zu betrachten sind: Auf Pergamentpapier eingefärbte Graphitfelder wirken in einer durch freigelassene Linien definierten perspektivischen Zuordnung teils flächig, teils dreidimensional.

Dem Wechselspiel zwischen ganzheitlicher und detaillierter Wahrnehmung der Dimensionen kommt hier durch eine Art flächig simulierten Illusionismus ein räumlicher Kippeffekt hinzu. Wie eine ganze Reihe nachfolgender und hier in dieser Ausstellung zu sehende Zeichnungen belegen, haben sich die Flächen zunehmend zum Rechteck hin tendierende Formen angenommen. Die angestrebte illusionistische Raumwirkung entsteht irgendwo zwischen Parallelperspektive und Isometrie, wie man es besonders deutlich an den eher würfelförmigen Darstellungen ablesen kann.

Die angestrebten Kippwirkungen entstehen hierbei durch spielerisch zeichnerische Versuchsanordnungen, bis sich der visuelle Effekt einstellt. Die Erkenntnis, dass die Visualisierung von linearperspektivisch eingezäunten und durchdrungenen Graphitflächen zu diesen gewünschten, unsere Wahrnehmung stimulierenden Wirkungen führt, prägt nachhaltig auch das plastische Werk Heiner Thiels in den 90er Jahren, wie es einige exemplarische Wandarbeiten aus Stahl in dieser Ausstellung belegen: Die perspektivischen Linien, welche illusionistische Tiefenräume suggerieren, finden hier in der halbplastischen Transformation ihre Entsprechung.

Die paradoxale Wirkung dieser Verschiebung von realen und nicht realen Bezügen – die Illusion wird gegenständlich – lässt die Frage nach der Wirklichkeit offen, so oft sie auch gestellt werden mag.

Dass die plastische Form allerdings messbar vorhanden ist, ist unstrittig: Gemessen wird am Objekt, gesehen wird beim Betrachter. Dieser muss für sich klären, vorausgesetzt er lässt sich auf ein derartiges Gedankenspiel ein, welche Ebene ihn gerade packt – das Bild von der Wirklichkeit oder die Wirklichkeit des Bildes. Ich fürchte allerdings, es gibt hier kein Entrinnen. Heute tun sich in der Physik analoge Fragestellungen auf, nämlich welche in kleinsten Zusammenhängen digital erzeugte „Wirklichkeiten“ bzw.
deren Abbilder sind Wiedergaben von virtuell animierte Vorstellungen dessen. Auf der Spur nach der Wahrheit sieht sich der Betrachter einer sehr komplexen und teilweise auch ideologisch geführten Diskussion gegenübergestellt.

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang auch stellt, ist: Wem dient welcher Anspruch auf Realität und Wahrheit! Die Kunst ist mitnichten eine Illustration naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen. Sie folgt nicht den Wissenschaftsbildern, sondern sie hat ihre eigenen. Wie die hier ausgestellten autonomen Arbeiten von Heiner Thiel beweisen, besteht allerdings die Möglichkeit, außerhalb solcher Einbindungen und Machtansprüchen, sich ganz grundsätzlich dem Phänomen dessen, was ist und wie es ist geistig anzunähern.

 

Im Gegensatz zu der Skulptur oder der auf dem Boden liegenden Plastik, haben die halbplastischen Formen, die wie Bilder an der Wand hängen, den Vorteil stärker zu diesen elementaren Reflexionen einzuladen, da ihnen die Dialektik von Flächigkeit und gleichzeitiger Räumlichkeit immanent ist.

Die physiologischen Eigenarten unserer retinalen Wahrnehmung lässt es nicht zu, länger als ein paar Sekunden unser Augenmerk auf einen Punkt zu richten und schon sucht sich das Auge, ob wir wollen oder nicht, andere Bezugspunkte.

Dieser Unwillkürlichkeit können wir insofern bewusst entgegenwirken, indem wir unserem Auge willentlich solche Blickrichtungen vorgeben, die unser Gehirn auswerten will.
Dieser Steuerungsvorgang ist die Voraussetzung einer komplexen interaktiven Wahrnehmung, zu der Heiner Thiels Reliefs auffordern.
Zu der Beweglichkeit des Auges gesellt sich die Beweglichkeit des Denkens.
Fast unmerklich stellt sich bei diesen Vorgängen eine Annäherung an das Wesen der Zeit und das Wesen des Raumes, außerhalb alltäglicher und funktionaler Festlegung ein.

Der Schritt von den verschiedenen zählbaren Ebenen geordneter Stahlblechkonstruktionen zu der „Einen“ nach außen hin gewölbten Fläche, der in den letzten Jahren entstandenen Wandarbeiten aus Aluminium ist nicht nur folgerichtig, sondern, wie ich finde, auch positiv dramatisch.

Es handelt sich bei dieser raumgreifenden Findung, physikalisch gesehen, jeweils um das Fragment einer Kugel.
Im Zusammenhang aller künstlerischen und intellektuellen Absichten, die in der Folgerichtigkeit dieser halbplastischen Serie von Arbeiten liegt, muss an dieser Stelle auch einmal darauf verwiesen werden, wie solche Dinge gemacht werden, denn das ist nicht ganz unerheblich für deren Präsenz.

Handwerkliche Unzulänglichkeiten würden auf Kosten der Präzision gehen und die ganze komplexe Verdichtung gedanklicher wie handwerklicher Ebenen würde der Lächerlichkeit preisgegeben sein.
Heiner Thiel, der übrigens – wie man an seinem umfangreichen Oeuvre leicht erkennen kann – auch ein hervorragender bildhauerischer Handwerker ist, hat, um dieser Frage zuvorzukommen, diese Wölbungen nicht selbst verursacht. Auf der Suche nach Kugelfragmenten bot sich ihm die ideale Lösung an: In der Industrie werden schalenartige Böden und Seitenformen für große Behälter aus statischen Gründen benötigt.
Mit großen Eisenkugeln werden dicke Metallbleche solange bearbeitet – sie werden im Prinzip mehrmals fallengelassen – bis sich die gewünschte Wölbung des Bleches einstellt.

So entsteht, bedingt durch die aufprallende Außenform der Eisenkugel eine fragmentarische Innenansicht einer zweiten Kugel.
Das für Heiner Thiel eine bildhauerische Konsequenz darin bestehen würde, von würfeligen Raumvolumina zur Kugel zu kommen, konnte er nicht vorhersehen – dass er solche Formen in der industriellen Verarbeitung finden würde, kann als Glück bezeichnet werden.
Doch zurück zur gedanklichen Folgerichtigkeit: Die Reihenfolge der Wahrnehmung der gegliederten Stahlflächen erfolgt ja, hinsichtlich der bereits beschriebenen Lesbarkeit je nach subjektiver Betrachtungsentscheidung, entweder aufeinander folgend oder gleichzeitig. Der Begriff der Reihenfolge definiert hierbei sehr deutlich minimale Unterbrechungen im Fluss des Sehens.

Wenn wir das erkennen, wird uns schnell klar, warum die Innenansicht einer Kugel diesbezüglich eine große Herausforderung für Heiner Thiel darstellt.
Hier nämlich ist innerhalb der sich kugelig raumgreifenden Fläche keine Unterbrechung für unsere sinnliche Wahrnehmung mehr zu erfahren.
So entsteht ein lückenloses Sehkontinuum. Der großen Linie, um die es hier geht, folgend bleibt er – und das ist erstaunlich – im System seiner spezifischen und singulären Bild-konstruktionen, denn alle vorherigen Bildaussagen verdichten sich auf einer einzigen homogenen sich wölbenden Fläche.

Theoretisch ist diese nichts anderes als die Summe unendlich vieler Einzelflächen, die in ihrer Kleinheit visuell nicht mehr wahrnehmbar sind und in ihrer ordentlichen Reihung als Einheit in Erscheinung treten.
Von Anfang an entstanden parallel zu den gewölbten Arbeiten ebenfalls Graphit-zeichnungen, wie sie hier zu sehen sind. Die Umrisslinien entstehen am Bildschirm. Heiner Thiel bedient sich hier eines Zeichenprogramms, den sogenannten Bezierkurven, mittels derer er geschlossene Formen erzeugen kann, die wie virtuell erzeugte Gummitücher aussehen! Es handelt sich hierbei um eine ideale Voraussetzung die spielerisch zeichnerischen Versuchsanordnungen in extrem kurzer Zeit auszuloten, was mit dem Zeichenstift so niemals möglich wäre.

Nach allen Seiten hin kann er diese „Gummitücher“ ziehen, die dann ausgehend wieder von Quadraten, noch nie gesehene räumliche Illusionen erzeugen.
Obwohl sie nichts anderes als monochrom eingefärbte Graphitflächen darstellen, die kurvig linear eingezäunt sind.
Wiederum finden diese zur Fläche gezwungenen Illusionsräume ihr plastisches Pendant in den neuen Wandarbeiten.
Wiederum entsteht ein irritierendes Wechselspiel zwischen zweiter und dritter Dimension.

Der Farbauftrag wird durch Eloxieren erzeugt und lässt der realen Körperhaftigkeit der Wandarbeiten eine illusionistische Farbräumlichkeit hinzukommen – sie scheint die gewölbte Fläche förmlich zu spannen. Die Methode des Eloxierens ermöglicht die Herstellung von Farbigkeit, ohne dass die materielle Substanz der Farbe sichtbar wäre. Das könne sie an den Schnittkanten, die gleichzeitig die Begrenzungslinien der einzelnen Farbräume sind, feststellen. Die Farbe nimmt keinen substantiell sichtbaren Raum ein, sie beträgt 20 mü, das sind 20 Tausendstel mm. Die durch sie erzeugte Illusion und Farbtiefe ist allerdings, wie man an den hier ausgestellten Werken sieht, deutlich präsent und tritt mit den gekrümmten Flächen in einen inneren Dialog, der dann sichtbar wird, wenn man die Arbeiten aus unterschiedlichen Standorten und Perspektiven wahrnehmen will.

Denn nicht nur im geistigen, sondern auch im körperlichen Sinne fordern diese Reliefs von außerordentlicher Schönheit im ganz realen Raum, den sie durch Krümmung selbst ergreifen, zur Interaktivität auf.

 

Michael Post